Theoretische und praktische Fragen zum Sozialismus und zum vietnamesischen Weg zum Sozialismus

Nguyễn Phú Trọng, Generalsekretär der KP Vietnams

 

-Übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo-

 

Sozialismus und der Weg zum Sozialismus in Vietnam ist eine sehr grundsätzliche theoretische und praktische Frage von größter Wichtigkeit. Sie betrifft ein weites Feld unterschiedlicher und komple­xer Themen mit mannigfaltigen Gesichtspunkten und bedarf der sorgfältigen und ernsthaften Unter­suchung und einer tiefen und wissenschaftlichen Bestandsaufnahme der Praxis. In diesem Artikel möchte ich eine Reihe von Aspekten aus der praktischen Perspektive Vietnams behandeln. Ich möchte mich dabei auf die folgenden Fragen konzentrieren: Was ist Sozialismus? Warum hat Viet­nam den Weg zum Sozialismus gewählt? Wie soll er in Vietnam nach und nach aufgebaut werden? Wie bedeutsam sind die „Erneuerung“ (Doi Moi) und der Aufbau des Sozialismus in den letzten Jahren? Und welche Fragen ergeben sich  aus diesem Prozess?

 

 

 

Wie allgemein bekannt ist, unterscheidet man beim Begriff des Sozialismus drei Aspekte: Sozialis­mus als eine Doktrin, als eine Bewegung und als eine Regierungsform. Jeder dieser Aspekte hat ver­schiedene Erscheinungsformen, die von den Zukunftsaussichten der Welt und der Entwicklungsstu­fe in einer bestimmten historischen Situation abhängig sind.  Sozialismus wird in diesem Artikel verstanden als wissenschaftlicher Sozialismus auf der Basis des Marxismus-Leninismus in der heu­tigen Welt. Wie also sollen wir infolgedessen den Sozialismus definieren und den Weg zum Sozia­lismus bestimmen, und zwar in einer Art und Weise, die den charakteristischen  Bedingungen Viet­nams entspricht?

 

 

Früher, als die Sowjetunion und die um sie gruppierten sozialistischen Länder noch existierten, schien die Entwicklung zum Sozialismus in Vietnam unzweifelhaft und selbstverständlich zu sein. Aber nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Modells in der Sowjetunion und mehreren ost­europäischen Ländern sowie dem Niedergang der Weltrevolution wurde die Weiterentwicklung zum Sozialismus erneut in Frage gestellt und zum Gegenstand heißer Debatten.

 

 

Der Antikommunismus und politische Opportunisten jubelten und ergriffen die Gelegenheit, Des­information auszustreuen und die Bewegung zu unterminieren. Selbst in den Reihen der Revolutio­näre gab es Menschen, die sich in Pessimismus ergingen und den Mut verloren. Einige bezweifelten sogar die Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit des Sozialismus und führten die Auflösung der So­wjetunion auf Irrtümer des Marxismus-Leninismus und die falsche Entscheidung, den Sozialismus anzustreben, zurück.

 

 

Die Folge davon war, dass diese Menschen glaubten, wir hätten den falschen Weg gewählt und müssten einen anderen gehen. Einige übernahmen feindliche Parolen, diskreditierten und kritisier­ten den Sozialismus und ergingen sich im einseitigen Lobpreis des Kapitalismus. Einige „bereuten“ sogar, an den Marxismus-Leninismus geglaubt zu haben. Aber entspricht das der Wirklichkeit? Stimmt es, dass es dem Kapitalismus, dass es den seit langem kapitalistischen Ländern heute immer noch gut geht? Hat Vietnam wirklich den „falschen Weg“ gewählt?

 

 

Wir erkennen an, dass der Kapitalismus niemals vorher globaler gewesen ist als heute, und dass er großartige Errungenschaften  hervorgebracht hat, vor allem hinsichtlich der Entfesselung und  Ent­faltung der Produktivkräfte und des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Viele entwi­ckelte kapitalistische Länder haben aufgrund ihrer hochentwickelten Volkswirtschaft und dank der Kämpfe der Arbeiterklasse und der  Werktätigen Reformen durchgeführt und bedeutsame Program­me zur sozialen Wohlfahrt entwickelt, die progressiver sind als zuvor. Seit Mitte der 1970er Jahre, und besonders nach der Auflösung der Sowjetunion hat der internationale Kapitalismus keine Mühe gescheut, sich anzupassen und den Neo-Liberalismus auf globaler Ebene gefördert, um den neuen Bedingungen zu genügen. So hat er dafür gesorgt, dass er weiter gedeihen kann. Aber der Kapitalis­mus kann seine inneren und grundlegenden Widersprüche nicht überwinden. Immer neue Krisen tun sich auf. Besonders deutlich haben wir das in den Jahren 2008 und 2009  mit der Finanzkrise und der Wirtschaftsrezession in den USA erlebt. Sie breitete sich schnell in andere Zentren des Kapita­lismus aus und betraf nahezu alle Länder der Erde. Kapitalistische Staaten und westliche Regierun­gen steckten riesige Mengen Geld in ihr System, um internationale Unternehmen, Industrie-, Fi­nanz- und Bankkonzerne und den Wertpapiermarkt zu retten, jedoch nur mit begrenztem Erfolg. Heute sind wir Zeugen einer vielfältigen Gesundheits-, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise unter den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der vierten industriellen Revolution. Die Rezession hat in den kapitalistischen Gesellschaften die sozialen Ungerechtigkeiten hervortre­ten lassen. Der Lebensstandard der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung fällt dramatisch, wäh­rend die Arbeitslosigkeit steigt. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich weiter, was Gegen­sätze und Konflikte zwischen den Ethnien verschärft. Fälle von „schlimmen Entwicklungen“ und paradoxen „Entwicklungsstörungen“ sind aus dem wirtschaftlichen und finanziellen Bereich in das gesellschaftliche Leben übergeschwappt und haben soziale Konflikte entfacht. An vielen Orten wur­den wirtschaftliche Zwischenfälle zu politischen, Wellen von Demonstrationen und Streiks bedroh­ten das ganze Regime. Die Realität hat uns gelehrt, dass der „freie Markt“ des Kapitalismus allein solche Probleme nicht lösen kann. In vielen Fällen fügt er armen Ländern sogar schweren Schaden zu und vertieft den Konflikt zwischen globaler Arbeit und globalem Kapital. Diese Realität  wider­legt drastisch ökonomische Theorien und Entwicklungsmodelle, die lange als „angesagt“ galten und von bürgerlichen Politikern und Experten als „optimal“ und „vernünftig“ gepriesen wurden.

 

 

Die Wirtschafts- und Finanzkrisen sind begleitet von Krisen der Energie- und Nahrungsmittelver­sorgung, der Erschöpfung von Naturressourcen und der zunehmenden Schädigung der Umwelt und des Ökosystems. Das bedeutet ungeheure Herausforderungen für die Existenz und die Entwicklung der Menschheit. Sie sind die Folgen eines Prozesses der ökonomischen und sozialen Entwicklung, in dem der Profit als das höchste Ziel festgelegt ist, in dem  Reichtum und Konsum als Maßstab der Zivilisation gelten und Individual-Interessen als Säulen der Gesellschaft hochgehalten werden. Dies sind die Kernmerkmale der kapitalistischen Produktions- und Konsumptionsweise. Die gegenwärti­gen Krisen beweisen aufs neue die wirtschaftliche, soziale und ökologische Unfähigkeit des Kapita­lismus zur Nachhaltigkeit. Nach der Meinung von vielen Wissenschaftlern sind die gegenwärtigen Krisen im Rahmen eines kapitalistischen Regimes nicht lösbar.

 

 

Die seit einiger Zeit aufflammenden sozialen Proteste in vielen entwickelten kapitalistischen Län­dern haben die Wahrheit über das Wesen kapitalistischer Politik noch deutlicher an den Tag ge­bracht. Demokratische Institutionen nach dem Muster „Freiheit und Demokratie“, die zu bewerben und der ganzen Welt aufzudrängen der Westen keine Mühe scheut, garantieren keineswegs, dass die Macht wirklich vom Volk ausgeht, durch das Volk und für das Volk  ausgeübt wird – was das in­nerste Charakteristikum der Demokratie ist. Die Macht liegt immer noch vorwiegend bei den weni­gen Reichen und dient den Interessen der großen kapitalistischen Kartelle. Eine dünne Minderheit, nur etwa 1 Prozent der Bevölkerung, besitzt die überwältigende Mehrheit des Reichtums und der Produktionsmittel, kontrolliert drei Viertel der Finanz- und Wissensressourcen sowie der Main­stream-Massenmedien, dominiert also die gesamte Gesellschaft. Dieser Zustand war die Wurzel und der Auslöser der Bewegung „99% gegen 1%“ in den USA Anfang 2011, die sich seitdem wie ein Flächenbrand auf andere kapitalistische Länder ausgebreitet hat. Der Anspruch auf „gleiche Rechte“ ohne Einschluss der „gleichen Möglichkeiten“, diese demokratischen Rechte auszuüben, hat zu Zu­ständen geführt, die nur dem Namen nach demokratisch sind – eine leere, substanzlose Hülle. Wenn im politischen Leben die Macht des Geldes herrscht, wird die Macht des Volkes außer Gefecht ge­setzt. Deshalb können in den entwickelten kapitalistischen Ländern „freie“ und „demokratische“ Wahlen, wie sie versprechen, zwar Regierungen wechseln, nicht aber die Machtverhältnisse ändern. Hinter dem Mehrparteiensystem herrscht in Wirklichkeit die Diktatur der kapitalistischen Kartelle.

 

 

Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Entwicklung wirklich den Menschen zugute kommt, nicht der Ausbeutung  und Entmenschlichung um des Profits willen dient. Wir brauchen eine wirtschaftli­che Entwicklung, die von gesellschaftlichem Fortschritt und sozialer Gleichheit begleitet ist, und nicht eine Vertiefung der Kluft zwischen arm und reich und wachsende Ungleichheit. Wir brauchen eine Gesellschaft, die von Mitgefühl, Solidarität und gegenseitiger Hilfe geprägt ist, entsprechend fortschrittlichen und humanistischen Werten – und keinen unfairen Wettbewerb, in dem „die Schwa­chen das Fleisch sind, das die Reichen essen“, um die egoistischen Interessen einiger weniger Indi­viduen oder Cliquen zu befriedigen. Wir brauchen eine nachhaltige Entwicklung im Gleichklang mit der Natur, um eine saubere Lebensumwelt für heutige und zukünftige Generationen zu garantie­ren, statt unbegrenzter Ausbeutung und unbeschränktem Besitz der Ressourcen sowie hemmungslo­sem Konsum und Zerstörung der Umwelt. Und wir brauchen ein politisches System, in dem die Macht wirklich beim Volk liegt, vom Volk ausgeübt wird und dem Volk dient und nicht bloß den In­teressen der reichen Minderheit. Solche schönen Ideale, sind sie nicht die wahren Werte des Sozia­lismus? Und sind sie nicht das Ziel und der Weg, den Präsident Ho Chi Minh und unsere Partei und unser Volk gewählt haben und dem wir beharrlich folgen?

 

 

Wie wir alle wissen, hat das vietnamesische Volk einen langen, beschwerlichen und opferreichen Kampf gegen kolonialistische und imperialistische Herrschaft und Invasion geführt für die heilige nationale Unabhängigkeit und Souveränität und für die Freiheit und das Wohl der Bevölkerung, im Geiste des Ausspruchs: „Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Freiheit“.

 

 

Nationale Unabhängigkeit und Sozialismus ist die grundlegende Richtlinie der vietnamesischen Revolution und zugleich die Quintessenz des theoretischen  Vermächtnisses von Ho Chi Minh. Mit seiner reichen praktischen Erfahrung, zusammen mit den revolutionären und wissenschaftlichen Theorien des Marxismus-Leninismus kam Ho Chi Minh zu der tiefen Erkenntnis, dass nur Sozialis­mus und Kommunismus das Problem der nationalen Unabhängigkeit vollständig lösen und Freiheit, Wohlstand und Glück für alle Menschen und jede Nation herbeiführen können.

 

 

Von Anfang an und den ganzen revolutionären Kampf hindurch hat die Kommunistische Partei Vi­etnams (KPV) stets erklärt, dass Sozialismus das Ziel und Ideal der KPV und des vietnamesischen Volks ist, und dass das Voranschreiten zum Sozialismus die objektive   Notwendigkeit und der un­umgängliche  Kurs der Vietnamesischen Revolution sind. In der politischen Plattform von 1930 hat die KPV ihr Aktionsprogramm entworfen, die nationale demokratische Volksrevolution unter der Führung der Arbeiterklasse durchzuführen und weiter voranzuschreiten zum Sozialismus, unter Auslassung des Kapitalismus. Im späten 20. Jahrhundert, als ein großer Teil des  realen Sozialismus zusammenbrach, der Block der sozialistischen Staaten aufhörte zu existieren und die sozialistische Bewegung in eine Periode der Krise, des Niedergangs und der Not eintrat, hielt die KPV daran fest, dass „unsere Partei und unser Volk entschlossen sind, Vietnam aufzubauen und den Weg zum Sozia­lismus zu gehen, auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus und der Gedanken Ho Chi Minhs“. Beim 11. Parteitag der KPV (Januar 2011), im Programm für den nationalen Aufbau in der Periode des Übergangs zum Sozialismus versicherten wir ein weiteres Mal, dass „das Voranschrei­ten zum Sozialismus das Bestreben unseres Volkes ist und die richtige Entscheidung der KPV und des Präsidenten Ho Chi Minh, im Einklang mit dem Entwicklungsgang der Geschichte“.

 

 

Trotzdem: „Was ist Sozialismus, und wie sollen wir zu ihm voranschreiten?“ Das sind die Fragen, über die wir immer nachdenken, diskutieren, die wir untersuchen und abwägen, um unsere Leitlinie und unseren Standpunkt stetig zu verbessern und bei ihrer Umsetzung sowohl die allgemeinen Ge­setzmäßigkeiten zu beachten als auch gemäß der spezifischen Bedingungen in Vietnam zu handeln.

 

 

In den Jahren seit Doi Moi hat die KPV, durch die Überprüfung der Praxis und das Studium der Theorie, schrittweise ein umfassenderes und tieferes Verständnis des Sozialismus und des Über­gangs zum Sozialismus erreicht. Schrittweise haben wir uns mit früheren Vereinfachungen aus­einandergesetzt, so zum Beispiel mit der Vermischung des sozialistischen Endziels mit den gerade anstehenden Aufgaben oder  mit der einseitigen Betonung der Produktionsverhältnisse und der gleichmäßigen Verteilung, ohne die Notwendigkeit zu erkennen, dass in der Übergangsperiode die  Produktivkräfte entwickelt werden müssen, oder indem wir die Existenz anderer ökonomischer Sek­toren nicht sahen, oder indem wir die Marktwirtschaft in einen Topf warfen mit dem Kapitalismus und den Rechts­staat mit dem bürgerlichen Staat – um nur einige Irrtümer zu nennen.

 

 

Was die Gegenwart angeht, so haben wir  trotz der Felder, die noch weiter untersucht werden müs­sen, eine umfassende Verständigung erzielt: Die sozialistische Gesellschaft, die das vietnamesische Volk mit großen Anstrengungen anstrebt, ist eine Gesellschaft, in der die  Menschen wohlhabend sind, das Land stark ist und das Volk herrscht, eine Gesellschaft, die durch Demokratie, Gleichheit und Zivilisation charakterisiert ist. Sie hat eine hochentwickelte Wirtschaft auf der Grundlage mo­derner Produktivkraft und geeigneter und fortschrittlicher Produktionsverhältnisse. Sie erfreut sich einer fortgeschrittenen Kultur, die geprägt ist von nationaler Identität. Ihre Bevölkerung hat An­spruch auf Wohlergehen, Freiheit und Glück und ist mit umfassenden Entwicklungsmöglichkeiten gesegnet. In der vietnamesischen Gemeinschaft sind ethnische Minderheiten gleich und einig, ge­währen einander Respekt und gegenseitige Unterstützung und wachsen zusammen. Die Vietname­sen haben einen sozialistischen Rechtsstaat des Volkes, durch das Volk und für das Volk unter der Führung der Kommunistischen Partei. Und Vietnam pflegt Freundschaft und Zusammenarbeit mit allen Ländern der Erde.

 

 

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir die Industrialisierung und Modernisierung vorantreiben, zusammen mit der Entwicklung einer wissensbasierten Volkswirtschaft. Wir müssen auch eine sozia­listisch orientierte Marktwirtschaft entwickeln, eine fortgeschrittene, mit nationaler Identität erfüllte Kultur aufbauen, die Entwicklung der menschlichen Ressourcen vorantreiben, den Lebens­standard der Bevölkerung heben, und sozialen Fortschritt und Gleichheit durchsetzen. Wir müssen die nationale Verteidigung und die soziale Ordnung und Sicherheit aufrecht erhalten. Wir müssen eine Außenpolitik der Unabhängigkeit, des Selbstvertrauens, des Multilateralismus‘ und der Diver­sifizierung für Frieden, Freundschaft, Zusammenarbeit und Entwicklung betreiben und uns aktiv für die internationale Integration einsetzen. Wir müssen eine sozialistische Demokratie aufbauen, den Willen und die Macht der nationalen Einheit zusammen mit der Macht unserer Zeit stärken. Wir müssen einen sozialistischen Rechtsstaat des Volkes, durch das Volk und für das Volk aufbauen. Wir müssen eine in jeder Beziehung makellose, starke Partei und Staatsführung aufbauen.

 

 

Je mehr unsere Partei sich in praktischer Führung übt, desto mehr erkennen wir, dass der Übergang zum Sozialismus eine langandauernde, immens herausfordernde und komplexe Aufgabe ist, denn er muss grundlegende qualitative Veränderungen auf allen Gebieten des  gesellschaftlichen Lebens be­wirken. Vietnam begann seinen Weg zum Sozialismus als ein unterentwickeltes, landwirtschaftlich geprägtes Land, übersprang den Kapitalismus mit einer sehr begrenzten Produktivkraft. Das Land wurde darüber hinaus geschwächt durch jahrzehntelange Kriege mit einhergehenden schwersten Zerstörungen sowie durch fortgesetzte subversive  Anschläge feindlicher Kräfte. Diese Faktoren ha­ben Vietnams Weg zum Sozialismus behindert. Deshalb ist eine längere Übergangsperiode unum­gänglich, die mehrere Stadien und Formen der sozioökonomischen Organisation mit Kämpfen zwi­schen Altem und Neuem umfasst. Wenn ich sage, dass Vietnam „das Stadium des Kapitalismus überspringt“, dann meine ich, dass das Land ein Regime der Unterdrückung, Ungleichheit und ka­pitalistischen Ausbeutung und damit schädliche Praktiken sowie politische Institutionen und Um­stände überspringt, die nicht in ein sozialistisches System passen. Damit ist nicht gemeint, dass wir alle Errungenschaften und Werte der Zivilisation ablehnen, die die Menschheit während der Ent­wicklung des kapitalistischen Systems erreicht hat. Natürlich müssen diese Errungenschaften ge­zielt im Licht von Wissenschaft und Fortschritt integriert werden.

 

 

Das Konzept der Entwicklung einer sozialistisch orientierten Marktwirtschaft bedeutet einen be­sonders fundamentalen und kreativen Durchbruch für unsere Partei. Es ist eine wichtige theoreti­sche Errungenschaft, an der seit 35 Jahren, seit der Einführung von Doi Moi, gearbeitet worden ist, und die auf der Praxis Vietnams und der gezielten Übernahme von in der ganzen Welt gemachten Erfahrungen fußt. Wir verstehen unter einer sozialistisch orientierten Marktwirtschaft eine moderne, gut in die Welt integrierte Marktwirtschaft. Es ist eine  Ökonomie, die ganz und vollständig im Rah­men der Gesetze der Marktwirtschaft  funktioniert. Sie wird reguliert durch einen sozialistischen Rechtsstaat unter der Führung der KPV. Sie wahrt eine sozialistische Orientierung mit dem Ziel ei­ner wohlhabenden Bevölkerung, einer blühenden Nation und einer demokratischen, gerechten und fortschrittlichen Gesellschaft. Es ist eine neue Form von  Marktwirtschaft in der Geschichte dieses ökonomischen Modells. Sie ist eine ökonomische Organisationsform, die sich an die Gesetze der Marktwirtschaft hält, aber auch an die Prinzipien und die Natur des Sozialismus gebunden ist. Dies zeigt sich in drei Aspekten: Eigentum, politische Organisation und Verteilung. Dies ist keine kapita­listische Marktwirtschaft, und sie muss erst noch eine voll entwickelte sozialistische Marktwirt­schaft werden (da unser Land sich noch immer in einer Übergangsperiode befindet).

 

 

Eine sozialistisch orientierte Marktwirtschaft umfasst vielfältige Formen von Eigentum und unter­schiedliche ökonomische Sektoren. Solche ökonomische Sektoren, die in Übereinstimmung mit den Gesetzen arbeiten, sind wichtige  Komponenten der Volkswirtschaft. Sie sind gesetzlich gleichge­stellt im Interesse einer langfristigen Entwicklung, Zusammenarbeit und eines gesunden Wettbe­werbs. In diesem System spielt die staatliche Wirtschaft eine Schlüsselrolle; die kollektive Wirt­schaft wird stetig konsolidiert und entwickelt; der private Sektor ist ein wichtiger Motor der Wirt­schaft; der Sektor ausländischer Direktinvestitionen (FDI-Sektor) wird ermutigt, sich im Rahmen der sozioökonomischen Entwicklungs-Strategien und -pläne zu entfalten. Die Distributionsverhält­nisse müssen Fairness garantieren und Impulse geben für Wachstum. Die Verteilung muss vorwie­gend auf der Basis von Arbeitsergebnissen, ökonomischer Effizienz und dem Eintrag von Kapital und Ressourcen erfolgen. Sie muss umgesetzt werden über das System der sozialen Sicherheit und Fürsorge. Der Staat reguliert die Wirtschaft durch Gesetze, Strategien, Pläne, politische Maßnah­men und materielle Ressourcen in dem Sinne, dass sie ausgerichtet sind auf die sozioökonomische Entwicklung, sie regulieren und anregen.

 

 

Ein fundamentales Charakteristikum und ein wichtiges Merkmal der sozialistischen Orientierung der vietnamesischen Marktwirtschaft ist die Kombination von Wirtschaft und Gesellschaft, die Ko­ordination von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Dies stellt sicher, dass das wirtschaftliche Wachstum in jeder Phase, jeder politischen Aktion und im gesamten Entwicklungsprozess mit ge­sellschaftlichem Fortschritt und Gleichheit einhergeht. Das heißt, dass wir nicht warten, bis die Wirtschaft einen hohen Entwicklungsstand erreicht hat, ehe wir damit beginnen, den sozialen Fort­schritt und die Gleichheit zu fördern. Ebenfalls werden wir bestimmt nicht den sozialen Fortschritt und die Gleichheit dem bloßen Streben nach Wachstum opfern. Im Gegenteil, jegliche Wirtschafts­politik muss dem Ziel der sozialen Entwicklung dienen, und jede Sozialpolitik sollte bestrebt sein, das Wirtschaftswachstum zu fördern. Die Menschen dazu zu ermuntern, sich selbst legal zu berei­chern, muss Hand in Hand gehen mit  verstärkten Anstrengungen für die nachhaltige Beseitigung von Hunger und die Verminderung der Armut sowie die Sorge für die Benachteiligten und diejeni­gen, die der Nation einen großen Dienst erwiesen haben. Dies ist eine Frage des Prinzips, eine ge­sunde, nachhaltige und sozialistisch orientierte Entwicklung zu gewährleisten.

 

 

Wir erachten die Kultur als eine geistige Grundlage der Gesellschaft, eine innere Kraft, einen Mo­tor für die nationale Entwicklung und Verteidigung. Wir erachten die ganzheitliche Entwicklung der Kultur in Harmonie mit ökonomischem Wachstum, sozialem Fortschritt und Gleichheit als eine we­sentliche Richtlinie und Grundlage des sozialistischen Aufbaus in Vietnam. Die Kultur, die wir auf­bauen, ist eine des Fortschritts und reich an nationaler Identität. Es ist eine Kultur der Einheit in der Vielfalt, auf der Basis progressiver und humanistischer Werte. Der Marxismus-Leninismus und die Gedanken Ho Chi Minhs spielen eine Hauptrolle im geistigen Leben der Gesellschaft. Wir bemühen uns dabei, auf den ursprünglichen traditionellen Werten aller Ethnien des ganzen Landes aufzubau­en und sie fortzuentwickeln, und von allen kulturellen Leistungen und dem Inbegriff der Mensch­lichkeit insgesamt zu lernen. Wir streben danach, eine fortgeschrittene und gesunde Gesell­schaft aufzubauen im Sinne der wirklichen Interessen und der Würde  der Menschen, die einen zu­nehmend höheren Grad an Wissen, Moral, körperlicher Fitness, Lebenslust und Schönheit begüns­tigt. Das Volk steht im Zentrum unserer Entwicklungsstrategien. Die kulturelle und menschliche Entwicklung sind sowohl das Ziel als auch der Impuls der Erneuerung. Die Kultivierung von Bil­dung, Ausbildung, Wissenschaft und Technologie ist das wichtigste Ziel unserer nationalen Politik. Der Schutz der Umwelt ist eine existentielle Aufgabe und Merkmal für eine nachhaltige Entwick­lung. Der Aufbau von glücklichen und progressiven Familien bildet ein festes Fundament für die Gesellschaft, und die Betonung der Geschlechtergleichheit ist ein Merkmal für Fortschritt und Zivi­lisation.

 

 

Eine sozialistische Gesellschaft ist eine, die fortschrittliche und humanitäre Ziele anstrebt, begrün­det auf der Harmonie zwischen den gemeinsamen Interessen der ganzen Gesellschaft und den legi­timen Interessen der Bürger. Dies unterscheidet sie qualitativ von anderen Gesellschaftsformen, die von der Konkurrenz zwischen Individuen und Gruppen um exklusive Interessen geprägt sind.  Des­halb braucht und kann sie den sozialen Konsens fördern statt Streit und Feindseligkeit. In einem so­zialistischen politischen System ist das Verhältnis zwischen Partei, Staat und Volk eines zwischen Akteuren, die sich in ihren Zielen und Interessen einig sind. Jede Parteirichtlinie, jegliche politische Maßnahme der Regierung, jegliches Gesetz und jegliche Entscheidung hat das Ziel, den Interessen und dem Glück des Volkes zu dienen. Das politische Modell und sein Handlungsmodus insgesamt umfasst die Führerschaft der Partei, das Management durch den Staat und die Herrschaft des Vol­kes. Die Demokratie ist die Natur des sozialistischen Regimes. Sie ist zugleich das Ziel und die Triebkraft für den Aufbau des Sozialismus. Eine sozialistische Demokratie aufzubauen, die sicher­stellt, dass die wahre Macht dem Volk gehört, ist das höchste und langfristige Mandat der vietname­sischen Revolution.

 

 

Wir streben unaufhörlich an, die Demokratie vorwärts zu bringen und einen sozialistischen Rechtsstaat aufzubauen, der wirklich vom Volk, für das Volk und durch das Volk ist, auf der Grund­lage einer Allianz zwischen Arbeitern, Bauern und Intellektuellen unter der Führung der KPV. Der Staat repräsentiert das Recht des Volkes auf Herrschaft und organisiert die Umsetzung der Richtlini­en der Partei. Es gibt Mechanismen, die es den Bürgern erlauben, ihr Recht auf direkte Herrschaft, auf demokratische Vertretung in allen Bereichen der Gesellschaft und auf Teilhabe an der gesell­schaftlichen Kontrolle auszuüben. Wir sind uns bewusst, dass ein sozialistischer Rechtsstaat sich von Natur aus von einem kapitalistischen Rechtsstaat unterscheidet. Die legislative Gewalt unter ei­nem kapitalistischen Regime ist im Wesentlichen ein Instrument, um die Interessen der Klasse der Bourgeoisie zu schützen und ihnen zu dienen. Im Gegensatz dazu ist die Rechtsstaatlichkeit im So­zialismus ein Werkzeug, um das Recht des Volkes auf Herrschaft zu sichern und auszuüben, die In­teressen der Mehrheit der Bürger zu schützen. Mit der Durchsetzung des Rechts soll der Staat dem Volk günstige Bedingungen verschaffen, um wirklich das Subjekt der politischen Macht zu sein, die alleinige Staatsmacht auszuüben, um gegen alle Aktionen vorzugehen, die die Interessen des Vater­landes und des Volkes verletzen. Gleichzeitig betrachten wir die große nationale Einheit als eine Kraftquelle und einen entscheidenden Faktor für den  dauerhaften Sieg der vietnamesischen Revo­lution. Gleichberechtigung und Eintracht zwischen unseren ethnischen Gruppen und Religionen werden ständig befördert.

 

 

In tiefem Bewusstsein darüber, dass die Führung der Kommunistischen Partei  ein Faktor ist, der den Erfolg von Doi Moi entscheidet und die Entwicklung unseres Landes im Einklang mit dem Weg zum Sozialismus sicherstellt, gilt unsere besondere Aufmerksamkeit der Konsolidierung und Kor­rektur der Partei. Diese Aufgabe ist entscheidend für das Überleben der Partei und des sozialisti­schen Systems. Die KPV ist die  Avantgarde der vietnamesischen Arbeiterklasse. Die Gründung, die Existenz und Entwicklung der Partei zielt darauf ab, den Interessen der Arbeiterklasse, der Werktä­tigen und der ganzen Nation zu dienen. Da die Partei das Ruder übernimmt und die Nation führt, wird sie vom ganzen Volk als seine Avantgarde angesehen, und sie ist also die Avantgarde sowohl der Arbeiterklasse als auch der Masse der Werktätigen und der ganzen Nation. Diese Feststellung soll nicht die Klassenausrichtung der Partei abwerten, sondern eher ein tieferes und vollständigeres Verständnis dieser Klassengebundenheit reflektieren, denn die Interessen der Arbeiterklasse stim­men überein mit denen der werktätigen Massen und der ganzen Nation. Unsere Partei bezieht sich weiterhin auf den Marxismus-Leninismus und die Gedanken Ho Chi Minhs als Grundlage und Leit­stern der Revolution und schätzt den demokratischen Zentralismus als das fundamentale Organisati­onsprinzip. Die Partei übt ihre Führungsfunktion durch ihre Parteiprogramme, ihre Strategien, ihre Richtlinien und ihre Politik aus. In der Praxis werden diese umgesetzt in Informationsverbreitung, Überzeugungsarbeit, Mobilisierung, Organisation, Überprüfung, Supervision.  Die Partei führt auch durch die Vorbildfunktion ihrer Mitglieder. Da sie sich dessen bewusst ist, dass die Risiken einer re­gierenden Partei, vor allem in einer Marktwirtschaft, in Korruption, Bürokratie und Dekadenz be­stehen, verlangt die KPV regelmäßig Selbstkritik und Offenheit für Neues und erachtet es als not­wendig, beständig den Kampf zu führen gegen Opportunismus, Egoismus, Korruption, Bürokratis­mus, Verschwendungssucht und moralisches Versagen in der Partei und im gesamten politischen System.

 

 

Doi Moi und die Entwicklung der sozialistisch orientierten Marktwirtschaft haben wirklich in den vergangenen 35 Jahren tiefgreifende und positive Veränderungen für unser Land mit sich gebracht.

 

 

Vor Doi Moi (1986) war Vietnam ein armes und kriegsgeschädigtes Land mit vielen Kriegsopfern, einer zerstörten Infrastruktur und beschädigten Umwelt. Zum Beispiel wurden bis heute Millionen von Menschen Opfer schwerer Krankheiten, und hunderttausende Kinder wurden mit Geburtsfeh­lern und Behinderungen geboren, die auf „Agent Orange“ und Dioxin zurückzuführen sind, Gifte, die die US-Armee im Krieg  eingesetzt hat. Experten zufolge wird es weitere 100 Jahre oder noch länger dauern, bis alle Blindgänger und Minen[1] beseitigt sein werden. Nach dem Krieg belegten die USA und der Westen Vietnam mit einem Boykott, der fast 20 Jahre dauerte. Diese Zeit erlebte auch komplexe Veränderungen in der Region und weltweit, die sich negativ auf unser Land auswirkten. Es gab einen ernsthaften Mangel an Lebensmitteln und wesentlichen Gütern, und unser Volks litt unter vielen Entbehrungen. Drei Viertel der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze.

 

 

Dank Doi Moi begann unsere Wirtschaft zu florieren, mit einer relativ hohen Wachstumsrate von rund 7 Prozent während dieser 35 Jahre. Das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) stieg kontinuierlich auf 342,7 Mrd. US-$ im Jahre 2020 und unsere Wirtschaft war bald die viertgrößte im ASEAN-Staaten­bund. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg auf das 17-fache, auf 3.512 US-$. Vietnam entwickelte sich nach und nach erfolgreich von einem Land mit niedrigem Einkommen im Jahre 2008, von einem Land mit andauernder Lebensmittelknappheit zu einem Land, das nicht nur die Versorgung mit Le­bensmitteln garantiert, sondern auch zum führenden Reis-Exporteur geworden ist sowie weitere landwirtschaftliche Produkte in alle Welt exportieren kann. Unsere Industrie blüht, der Anteil der Industrie und der Dienstleistungen an unserem BIP steigt ständig, macht derzeit 85 Prozent aus. Un­ser Außenhandelsumsatz wächst dramatisch, überstieg 2020 540 Mrd. US-$, wobei die Exporte mehr als 280 Mrd. US-$  ausmachten. Unsere Reserven an Devisen sprangen im Jahre 2020 auf 100 Mrd. US-$. Auch die ausländischen Direktinvestitionen stiegen rapide  auf eine Summe von fast 395 Mrd. US-$ Ende 2020. Was die Wirtschaftsstruktur in Bezug auf das Eigentum betrifft, so be­trägt der Anteil des staatlichen Sektors 27 Prozent des BIP, der Genossenschaften 4 Prozent, der Fa­milienbetriebe 30 Prozent, des inländischen Privatsektors 10 Prozent und des Sektors der ausländi­schen Direktinvestitionen 20 Prozent.

 

 

Vietnam hat heute eine Einwohnerzahl von über 97 Mio., Angehörige von 54 Ethnien, von denen 60 Prozent in ländlichen Gegenden leben. Die ökonomische Entwicklung hat das Land aus der Kri­se der 1980er Jahre geführt und den Lebensstandard der Bevölkerung spürbar verbessert. Der Anteil armer Haushalte fällt jedes Jahr durchschnittlich um 1,5 Prozent, also von 58 % im Jahr 1993 auf 5,8 % im Jahr 2016 (Zählung nach den Vorgaben der Regierung für die Definition von Armut) und wenige als 3 % im Jahr 2020 (nach dem multidimensionalen Armutsindex, dessen Standards höher sind als die vorherigen).

 

 

Heute haben mehr als 60 Prozent der Gemeinden ein Niveau erreicht, das als Standard von „Land­gemeinden neuen Stils“ bezeichnet wird. Die meisten von ihnen haben eine Autostraßenverbindung zum nächstgelegenen Zentrum, elektrischen Stromanschluss, Grund- und weiterführende Schulen, Krankenhäuser und Telefonanschluss. Da wir nunmehr in der Lage sind, für alle den kostenlosen Unterricht auf allen Ebenen bereitzustellen, haben wir für das ganze Land unsere Anstrengungen darauf gerichtet, den Analphabetismus zu beseitigen. Im Jahr 2000 erreichten wir landesweit die all­gemeine Grundschulbildung, 2010 die allgemeine höhere Schulbildung. Die Anzahl der Studieren­den an Universitäten und Colleges ist in den letzten 35 Jahren auf das Siebzehn-fache gestiegen. Derzeit können 95 Prozent aller Erwachsenen lesen und schreiben. Da wir noch keinen allgemeinen Gesundheits-Versicherungsschutz garantieren können, konzentrieren wir uns darauf, die präventive Gesundheitsfürsorge zu steigern, auf die  Vermeidung und Eindämmung von Epidemien und die Hilfe für benachteiligte Personen. Viele zuvor weit verbreitete Krankheiten wurden erfolgreich zu­rückgedrängt. Arme, Kinder unter sechs Jahren und Ältere sind kostenlos krankenversichert. Unte­rernährung und Kindersterblichkeit konnten auf ein Drittel reduziert werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 62 Jahren im Jahr 1990 auf 73,7 Jahre in 2020 gestiegen. Dank der guten wirtschaftlichen Entwicklung sind wir auch in der Lage, besser für diejenigen Menschen zu sorgen, die einen bedeutenden Beitrag zur vietnamesischen Revolution geleistet haben, etwa die „Helden­haften Mütter“, und die Gräber von Märtyrern zu pflegen, die sich für das Vaterland geopfert haben. Auch das kulturelle Leben wurde  deutlich bereichert durch eine vielfältige und wachsende Anzahl von kulturellen Aktivitäten. 70 Prozent der Bevölkerung haben haben jetzt Zugang zum Internet und Vietnam gehört zu den sich am schnellsten entwickelnden IT-Ländern der Welt. Die Vereinten Natio­nen haben Vietnam als eines der führenden Länder bei der Erreichung der Millenniums-Ent­wicklungsziele anerkannt. Im Jahre 2019 erreichte Vietnams Index der menschlichen Entwicklung (HDI) einen Wert von 0,704, was der Kategorie „Hohe Entwicklung“ entspricht[2]. Dies ist ein gutes Ergebnis, vor allem im Vergleich mit dem anderer Länder mit ähnlichem Entwicklungsstand.

 

 

Somit können wir sagen, dass die Einführung von Doi Moi klare, tiefgehende und positive Verän­derungen für Vietnam mit sich brachte. Die Wirtschaft boomt und die Produktivkraft ist gestiegen. Die Armut sinkt rapide und anhaltend. Der Lebensstandard der Bevölkerung steigt, und die Lösung vieler sozialer Probleme wurde angegangen. Politische und soziale Stabilität, Verteidigung und Si­cherheit sind gut gewahrt. Wir genießen immer breitere internationale Beziehungen und umfangrei­chere internationale Integration. Unser nationales Ansehen und unsere Macht wachsen und das Ver­trauen des Volks in die Führung der Partei ist fest verankert.

 

 

In seinem Rückblick auf 20 Jahre Doi Moi stellte der 10. Parteitag (2006) fest, dass der Erneue­rungs-Prozess „immense historische Leistungen erbracht hat“. In der Tat erfreuen sich die Vietna­mesen heute in vieler Hinsicht eines viel höheren Lebensstandards als je zuvor. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Doi Moi, von der KPV initiiert und geleitet, eine so breite Unterstützung genießt und von der breiten Masse der vietnamesischen Bevölkerung aktiv umgesetzt wird. Die Erfolge von Doi Moi haben bewiesen, dass eine sozialistisch orientierte Entwicklung nicht nur ökonomisch po­sitiv, sondern auch besser geeignet ist, soziale Probleme anzugehen als in kapitalistischen Ländern mit demselben Stand der ökonomischen Entwicklung. Die außergewöhnlichen Leistungen und Er­folge Vietnams während der COVID-19-Pandemie und der weltweiten Rezession seit Anfang 2020 wurden international anerkannt und gelobt, nicht nur von Freunden, was die Überlegenheit des sozia­listischen Systems in unserem Land belegt. Kürzlich erklärte der 13. Parteitag einmal mehr, dass „nach 35 Jahren Doi Moi und 30 Jahren  der Umsetzung des Programms für die nationale Ent­wicklung während des Übergangs zum Sozialismus die Theorien über Doi Moi, über Sozialismus und den Weg zum Sozialismus immer weiter vervollständigt und in die Realität überführt werden. Wir haben gewaltige historische Fortschritte erzielt und entwickeln uns im Vergleich zur Vor-Doi-Moi-Ära entschiedener und umfassender. In aller Bescheidenheit können wir sagen, dass „niemals unser Land so viel Glück, so viel Potential, internationales Ansehen und Prestige erreicht hat wie heute“. Ein solcher Fortschritt ist die Kristallisation der Kreativität der ganzen Partei, des Volks und der Armee, und das Produkt unserer beharrlichen Anstrengungen in vielen Amtsperioden. Er zeugt von der Richtigkeit unseres Wegs zum Sozialismus. Er beweist, dass sich dieser Prozess  in gutem Einklang mit objektiven Gesetzmäßigkeiten, mit der Situation Vietnams und den Entwicklungsten­denzen unserer Zeit befindet. Er demonstriert, dass die von der Partei erarbeitete Doi-Moi-Richtli­nie richtig und innovativ ist. Er beweist, dass die Führungskraft der Partei das entscheidende Ele­ment für   alle Siege der Revolution in Vietnam ist. Das Parteiprogramm ist weiterhin das ideologi­sche Banner, das die Entschlossenheit unseres Volkes stärkt und es auf dem Weg der umfassenden und ganzheitlichen Erneuerung führt. Es dient als Grundlage für unsere Partei, ihre Richtlinie zu verbessern für den Aufbau und die Verteidigung unseres Vaterlandes, den sozialistischen Staat Viet­nam, in der neuen Ära.“[3]

 

 

Neben den vorherrschenden Errungenschaften und positiven Aspekten gibt es auch beträchtliche Rückschläge und Versäumnisse, zusätzlich zu den bei unserer nationalen Entwicklung auftretenden Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.

 

 

Ökonomisch bleibt unsere Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit niedrig und ist nicht sehr nach­haltig. Die Infrastruktur leidet unter dem Mangel an Kohärenz, und die Effektivität und das Ge­schäftspotential vieler Unternehmen, inklusive der Staatsbetriebe, sind begrenzt. Die Umwelt leidet vielerorts unter Verschmutzung. Verwaltung und Regulierung des Markts weisen noch viele Mängel auf. Unterdessen wird vor dem Hintergrund der Globalisierung und internationalen Integration die Konkurrenz immer heftiger.

 

 

Sozial öffnet sich die Schere zwischen arm und reich immer noch weiter, während die Qualität des Bildungswesens, des Gesundheitswesens und anderer öffentlicher Dienste immer noch viel zu wün­schen übrig lässt. Unsere kulturelle und gesellschaftliche Moral zeigt in gewisser Hinsicht Sympto­me des Niedergangs, Kriminalität und soziale Übel entwickeln sich immer komplexer. Noch beun­ruhigender sind Korruption, Verschwendungssucht, Verfall des politischen Denkens, der Moral und des Lebensstils, die bei manchen Kadern und Parteimitgliedern zu beobachten sind. Gleichzeitig wenden feindliche Kräfte alle möglichen Mittel auf, Interventionen, Umsturzversuche, Destabilisie­rungen und Betreiben einer „friedlichen Evolution“, um den Sozialismus in Vietnam zu untergra­ben.

 

 

Unsere Partei ist sich bewusst, dass Vietnam sich in einer Übergangsperiode zum Sozialismus be­findet. Während dieses Übergangs nehmen in diversen Bereichen sozialistische Elemente Gestalt an, treffen auf nicht-sozialistische, auch kapitalistische Elemente und konkurrieren mit ihnen.

 

Diese Überschneidungen und diese Konkurrenz werden vor dem Hintergrund der Marktwirtschaft, der Öffnung und der internationalen Integration noch komplexer und intensiver. Neben den Errun­genschaften und positiven Entwicklungen werden negative Aspekte und Herausforderungen weiter­hin bestehen, die rationaler Erwägung und zügiger und effektiver Entscheidungen bedürfen. Dies ist ein beschwerlicher und aufreibender Kampf, der eine neue Vision, neue Entschlossenheit und einen neuen Innovations-Elan erfordert. Auf dem Weg zum Sozialismus voranzuschreiten bedeutet eine Periode der unermüdlichen Stärkung, Vermehrung und  Nutzbarmachung der sozialistischen Ele­mente, so dass sie zunehmende Dominanz und Überlegenheit und schließlich den Sieg erringen. Er­folg oder Scheitern dabei hängen zuallererst von der Richtigkeit der Parteilinie und ihrer politischen Stärke, Führungskraft und Kampfbereitschaft ab.

 

 

Derzeit beschleunigen wir weiterhin die Transformation unseres Wachstumsmodells und die Re­strukturierung der Wirtschaft unter stärkerer Beachtung  von Qualität und Nachhaltigkeit. In diesem Zusammenhang haben wir die folgenden entscheidenden Aufgaben identifiziert: die abgestimmte Verbesserung unserer Entwicklungsinstitutionen mit einer Priorität für die sozialistisch orientierte Marktwirtschaft; die Förderung der menschlichen Ressourcen, insbesondere hochqualifizierter Facharbeiter; der Aufbau einer sowohl ökonomisch als auch sozial abgestimmten und modernen In­frastruktur.[4]

 

 

Was die gesellschaftliche Entwicklung angeht, treiben wir weiterhin die nachhaltige Reduzierung der Armut voran, verbessern die Qualität des Gesundheitswesens, des Bildungswesens und anderer öffentlicher Dienste und fördern die qualitative Verbesserung des kulturellen Lebens der Menschen. Die gesamte Partei, das Volk und die Armee machen große Anstrengungen, die Gedanken Ho Chi Minhs, seine Moralität und seine Lebensweise zu studieren und ihm darin nachzueifern, mit der fes­ten Absicht, die Degeneration der politischen Überzeugung, der Moral und Lebensweise mancher Kader und Parteimitglieder, vor allem von führenden Funktionären und Organisatoren auf allen Ebenen einzudämmen und zurückzudrängen. Wir arbeiten daran, die Prinzipien der Parteiorganisati­on und des Parteiaufbaus besser umzusetzen, um sicherzustellen, dass die Parteiorganisation und der Staatsapparat stark und makellos gedeihen, um den revolutionären Charakter der Partei zu be­wahren und ihre Führungskompetenz und Kampfkraft zu verbessern.

 

 

Sowohl die Theorie als auch die Praxis haben gezeigt, dass der Aufbau des Sozialismus bedeutet, ein qualitativ neues Gesellschaftsmodell zu schaffen, was keineswegs eine einfache oder leichte Aufgabe ist. Es ist eine große und innovative Aufgabe, voller Herausforderungen und Widrigkeiten. Es ist eine selbstgesteuerte, fortwährende, langfristige und zielgerichtete Mission, die nicht über­hastet werden darf. Deshalb müssen wir, zusätzlich zur Festlegung der richtigen Parteilinie und -po­litik sowie zur Sicherung ihrer Führungsrolle, aktiv die Kreativität des Volks, seine Unterstützung und aktive Partizipation nutzbar machen. Die Bürger werden die Umsetzung der Parteidirektiven begrüßen, sie unterstützen und sich enthusiastisch daran beteiligen, wenn sie sehen, dass diese Richtlinien in ihrem Interesse sind und ihren Bedürfnissen entsprechen. Der endgültige Sieg und der Gipfel der Entwicklung gründen tief in der Lebenskraft des vietnamesischen Volks.

 

 

Auf der anderen Seite sollte sich   die Führung und Supervision durch die Partei bei der Gestaltung der politischen Linie und beim Treffen von Entscheidungen nicht allein auf die Gegebenheiten des eigenen Landes, der eigenen Nation beziehen. Sie müssen stattdessen auch die Erfahrungen der Welt und verschiedener Epochen untersuchen und daraus Lehren ziehen. In der heutigen globali­sierten Welt kann die Entwicklung eines Nationalstaates nicht mehr für sich separat und unabhängig von Einflüssen aus aller Welt und diversen Epochen und deren Zusammenhängen und Wechselwir­kungen betrachtet werden. Deshalb müssen wir uns aktiv für die internationale Integration engagie­ren, eine Außenpolitik pflegen, die auf Unabhängigkeit, Selbstvertrauen, Frieden, Zusammenarbeit und Entwicklung sowie Multilateralismus und Diversifikation der internationalen Beziehungen be­ruht, auf der Basis der gegenseitigen Respektierung der Unabhängigkeit, Souveränität und territoria­len Integrität, der gegenseitigen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der Gleichstellung und des wechselseitigen Nutzens.

 

 

Und es ist sehr wichtig, unerschütterlich und fest an der Grundlage des Marxismus-Leninismus festzuhalten, der wissenschaftlichen und revolutionären Doktrin der Arbeiterklasse und der Werktä­tigen. Die wissenschaftliche und  eindeutig revolutionäre Natur des Marxismus-Leninismus und der Gedanken Ho Chi Minhs sind ewige Werte, die Generationen von Revolutionären hoch gehalten und umgesetzt haben. Diese werden sich weiterhin entwickeln und ihre Vitalität beweisen in der Rea­lität sowohl der revolutionären Bewegung als auch der wissenschaftlichen Entwicklung. Wir müssen im Geiste der Kritik und der Kreativität die neuesten ideologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften gezielt aufnehmen und ergänzen, auf dass sie stets frisch und und neubelebt sei­en, erfüllt vom Atem unserer Zeit, auf dass wir nicht dem Dogmatismus verfallen und obsolet wer­den.

 

 

Quelle: Vietnam plus 27.5.2021

https://en.vietnamplus.vn/some-theoretical-and-practical-issues-on-socialism-and-the-path-towards-socialism-in-vietnam/202175.vnp



[1] unexploded ordnance (UXO) (A.d.Ü)

[2] Der Human Development Index (HDI) ist ein jährlich durch das UNDP erhobener Index für menschliche Entwick­lung, der neben dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes pro Kopf weitere Faktoren einbezieht, z.B. die Lebenser­wartung und den Bildungsstand. Der Idealwert ist 1,0. (A.d.Ü)

[3] Aus dem Beschlüssen des 13. Parteitags, Band 1, Hanoi 2021, Seite 25-26.

[4] Dokumente des 13. Parteitags, a.a.O. S. 337-338.